Manchmal blitzt die Bachsche Tiefe auf
Markus-Passion des Barockkomponisten Reinhard Keiser in der Stadtkirche – Böblinger Kantorei singt unter der Leitung von Eckhart Böhm
Die Böblinger Kantorei ist offenbar neugieriger als ihr Publikum: Als am Sonntag Reinhard Keisers „Markus-Passion“ aufgeführt wurde, war die Stadtkirche längst nicht vollbesetzt. Dieses Werk ist wohl zu unbekannt. Außerdem herrschte herrliches Frühlingswetter, und die Aufführung war schon um 16 Uhr.


Mit freundlicher Unterstützung der Kreiszeitung-Böblinger Bote

Bericht von Jan Renz vom 20.4.2011 -- Bilder: Thomas Bischof


BÖBLINGEN. Etwas bekannter als das Werk ist der Komponist, aber vor allem als Meister der Oper. Keiser war gerade ein Jahr tot, da bezeichnete ihn der Musikexperte Johann Mattheson als „größesten Opern-Componist von der Welt“ (1740).

Von dieser Größe ist heute nicht mehr viel übrig. Keiser fühlte sich für die Oper geboren, er eroberte sie mit 18 Jahren. Damals, um 1700, war Deutschland kulturelle Provinz. Keisers Leistung war es, die unterschiedlichen musikalischen Strömungen, die auf Deutschland wirkten, zusammenzufassen und daraus einen eigenen Stil zu entwickeln. Seine Markus-Passion ist keine Opernmusik, aber sie verdankt der Oper einiges: Sie versucht, ein bekanntes Drama, die Leidensgeschichte Jesu, anschaulich und eindringlich wiederzugeben.

Die Musik beschränkt sich auf einige wesentliche Stimmen und besitzt behutsamen Ausdruckswillen. Sie ist alles andere als spektakulär, eher subtil. Sie soll ohne übermäßigen Aufwand die Menschen ansprechen. Schon der Eingangschoral bewegt sich zwischen eingängig und expressiv. Am Anfang der Passion wird das Ende vorweggenommen: Jesus wird, heißt es, „zerschlagen“ werden. Dieses Wort vertont Keiser zweimal ganz unterschiedlich: einmal dissonant, einmal geglättet. Damit wird am Anfang klargestellt: Die Passion Jesu hat eine doppelte Bedeutung: Es ist tödliches Geschehen, aber im Dienst des Lebens. Das Leiden hat auch einen positiven Sinn. Das singt der Chor am Anfang auch: „Durch seine Wunden sind wir geheilet“.

Es gibt noch andere eindringliche Momente. Der Chor formuliert klangschön: „Wer Gott vertraut, den will er nicht verlassen.“ Aber gleich darauf wird Jesus von einem seiner Jünger im Stich gelassen. 50 Minuten später fallen dann Jesu letzte Worte: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Dieses Ende trifft einen immer wieder.

Natürlich kann man ein ungeheuerliches Drama wie diese Leidensgeschichte nicht in einem Ton gestalten. In jedem Choral musste die Kantorei andere Qualitäten zeigen. Mal sang sie schlicht und ruhig. Der Choral „So gehst du nun, mein Jesus, hin, den Tod für mich zu leiden“ klang dagegen äußerst schmerzzerrissen, das ist kühne Musik.

Überhaupt findet sich in Keisers Werk viel Klagemusik. Die Kantorei sang immer sehr beteiligt, es gab nur wenige Wackler, unterstützt wurde sie von einem kleinen Streichorchester, das seinen Ausdrucksbeitrag leistete. Mit sanfter Stimme bewältigte Tenor Clemens König sein großes Pensum, herausragender Gesangssolist war Bassist Bernhard Hartmann, der den Jesuspart stimmgewaltig ausfüllte. Manchmal blitzte auch Bachsche Tiefe auf: wenn der Chor von „bittern Leiden“ sang oder wenn verschiedene Affekte einander überlagerten. Johann Sebastian Bach kannte und schätzte diese Musik, führte sie etwa 1713 in Weimar auf. Der Böblinger Kantor Eckhart Böhm dirigierte diese Fassung. Natürlich besitzt das Werk nicht die inneren und äußeren Dimensionen der großen Passionen Bachs, nicht deren Komplexität, nicht deren elementare und erschütternde Wucht. Aber welche Musik besitzt sie schon? Neben Bach verzwergen die meisten Komponisten. Aber soll man sie deshalb vernachlässigen?

Eckhart Böhm und seine Musikerinnen und Musiker taten das Gegenteil: Sie entdeckten einen fast vergessenen Kirchenmusiker. Keiser hat viele überzeugende Ideen. Der Choral „Wenn ich einmal soll scheiden, so steh Herr Christ bei mir“ wird nicht vom Chor, sondern von der Altistin gesungen (sehr einfühlsam: Anne Catherine Wagner). Wenn das nicht hundert Stimmen singen, sondern nur eine einzige, ist die Wirkung tatsächlich noch viel stärker: Im Tod ist der Mensch ganz allein.

Der letzte Choral schwebte zwischen Traurigkeit und Seligkeit (so die wichtigsten Worte), zwischen Spannung und Lösung: „Amen“. Dieses Ende wurde durch einen Lichtblick der besonderen Art unterstützt: Nach rund eineinhalb Stunden Gesang von Blut und Wunden, Tod und Gruft trat man aus der Stadtkirche hinaus in die warme Frühlingssonne.