Bekannte Geschichte trifft unbekannte Musik

Außergewöhnliche Aufarbeitung der Passionsgeschichte: Die Böblinger Kantorei führte John Stainers „The Crucifixion“ auf


Von Jan Renz
Mit freundlicher Unterstützung der KREISZEITUNG Böblinger Bote

BÖBLINGEN. Kantor Eckhart Böhm ist ein neugieriger Chorleiter: Er gibt sich nicht mit Bach und Händel, Mozart und Beethoven zufrieden, sondern setzt sich immer wieder auch für weniger bekannte Musik ein. Zum Beispiel für das Oratorium „The Crucifixion“ („Die Kreuzigung“) von John Stainer, das am Sonntag in der Stadtkirche Böblingen erklang, drei Wochen vor Ostern. Man stellte schnell fest: Ein risikoreiches Wagnis war diese Aufführung nicht, die Musik nimmt ein durch den sanften Charme, die Choralseligkeit, den hellen Mendelssohn- Ton. Viele Menschen interessierten sich für diese Klänge, die Stadtkirche war am Sonntag gut besucht. An dieser Musik können auch Menschen ihre Freude haben, die mit klassischen Werken weniger vertraut sind.

Der „Harenberg Chormusikführer“ umfasst über 1000 Seiten. John Stainer – geboren 1840 in London, gestorben 1901 Verona – wird darin mit keinem Wort erwähnt. Zum Glück gibt es Wikipedia. Die Internet-Enzyklopädie schreibt: „Seine Tätigkeit als Chorerzieher und Organist setzte Maßstäbe für die Anglikanische Kirchenmusik, deren Einfluss bis heute zu spüren ist. Stainer war außerdem als Lehrer tätig, 1889 erhielt er eine Professur für Musik an der Oxford University und unternahm bahnbrechende Forschung im Bereich der Alten Musik.“

Stainer hat ein umfangreiches geistliches Werk geschaffen, das heute kaum jemand kennt. Er war 16 Jahre alt, als er seine erste Organistenstelle erhielt. Man hört in seinem Oratorium, dass er mit der Orgel sehr vertraut war.
„The Crucifixion“ stammt aus dem Jahr 1887, gesungen wurde in der Stadtkirche eine deutsche Übersetzung. Die Böblinger Kantorei nahm diesmal Aufstellung auf der Empore, vor der Winterhalter-Orgel, die das Orchester ersetzte. Sehr sicher an der Orgel zeigte sich Rainer Bohm, der Kirchenmusiker aus Stuttgart-Vaihingen. Er ließ das Instrument öfter schillern, tiefe Regionen wurden genauso berührt wie hohe.

Die Passionsgeschichte kennt man, die Musik nicht. Das Oratorium von Stainer konzentriert sich auf das Geschehen in Gethsemane und auf Golgatha. Sanft und mild klingt der erste Choral: „Jesu meines Lebens Leben“. Damit ist der Ton des Werks vorgegeben, es klingt rund und geschmeidig, man denkt häufig an Felix Mendelssohn Bartholdy. In hymnischen Passagen ist Edward Elgar nicht fern. Manchmal bedient sich Stainer, der Kenner Alter Musik, auch bei Johann Sebastian Bach.

Nach dem letzten Ton herrscht lange Stille

Alles beginnt in Gethsemane. Jesus zieht sich zurück, um zu beten. Verlassener als Jesus kann man kaum sein: „Könnt ihr nicht eine Weile mit mir wachen?“, heißt es am Anfang. „Wahrlich, o Freunde, so bin ich allein.“ Das wird gegen Ende des Werks noch verschärft: „Mein Gott! Mein Gott! Warum hast Du mich verlassen?“ Das wurde eindringlich gesungen. Liebevoll und schwebend tönte das „Also hat Gott die Welt geliebt“, wobei das „geliebt“ hervorgehoben wurde. Tiefe, düstere Klänge der Orgel leiteten das „Da kam eine Finsternis über das Land“ ein.

Die Böblinger Kantorei trumpfte nie durch lautes Agieren auf, sondern überzeugte einmal mehr durch beseeltes, differenziertes Singen. Der Chor schwelgte in romantischem Wohlklang. Kantor Eckhart Böhm dirigierte mit entschiedenen, ausladenden Gesten. Sonor und voluminös klang der Bass von Bernhard Hartmann, den man in Böblingen immer wieder gerne hört. Der Tenor Hubert Mayer war kurzfristig eingesprungen und sang schlank und elegant. An entscheidenden Stellen des Werks war es in der Stadtkirche ganz still. So nach dem „Und er neigte das Haupt und verschied.“ Genau 60 Minuten dauerte dieses Oratorium aus England in Böblingen. Auch am Ende steht ein Choral, mit einem gedehnten „Amen“ schließt er. Lange Stille herrscht nach dem letzten Ton. Niemand wagt zu klatschen. Dann setzt der große Applaus ein.