Zur Einführung


Das Inselhotel in Konstanz ist eine der besten Adressen der Stadt. Die romantische Lage am Ufer des Bodensees, das exklusive Ambiente und die überall sichtbaren Spuren der Vergangenheit als ehemals bedeutendes Dominikanerkloster lassen leicht vergessen, dass hier nicht alle Gäste willkommen waren und freundlich behandelt wurden, am allerwenigsten Jan Hus, der vom 6. Dezember 1414 an in dem kleinen halbrunden Anbau direkt am See unter grausamen Bedingungen eingekerkert war.

Der Prager Theologe hatte auf die Zusage des Kaisers Sigismund, ihm freies Geleit für Hin- und Rückreise zu gewähren, die Einladung angenommen, seine Lehren beim Konstanzer Konzil zu vertreten, war aber kurz nach seiner Ankunft verhaftet worden und sollte rund neun Monate später, am 6. Juli 1415, nach einem Schauprozess als Ketzer verbrannt werden.

Sein Tod sollte die Macht des Kaisers festigen, der das Konzil in einer chaotisch gewordenen politischen Situation einberufen hatte. Nicht weniger als drei Päpste beanspruchten die geistliche Autorität für sich und ihre Gefolgsleute. Die Böhmische Reformbewegung hatte, beeinflusst von den Lehren John Wycliffs, neues nationales Selbstbewusstsein hervorgebracht. Im anregenden geistigen Klima der Prager Universität, deren Rektor Jan Hus 1409 geworden war, war die Idee einer Kirche zum Leben erwacht, in der auch Laien beim Abendmahl den Kelch empfangen durften, die sich allein der Bibel verpflichtet sah und in der der Klerus den Zugang zu den Gnadenmitteln nicht einschränken oder gar durch finanzielle Leistungen verkaufen konnte.

All das gefährdete die Bemühungen, die alte Ordnung wiederherzustellen und Ruhe zu schaffen in einem Reich, das drohte, auseinanderzubrechen. Auch in Böhmen hatte die Bewegung um Hus nicht nur Anhänger, weswegen er selbst schon 1412 aus Prag fliehen musste und sich auf die Ziegenburg in Südböhmen zurückzog. Dort entstanden einige seiner Hauptwerke, und wie Martin Luther rund hundert Jahre später auf der Wartburg nutzte Hus seinen Aufenthalt auf der Festung dazu, Teile der Bibel in seine Muttersprache zu übersetzen. Damit legte er den Grundstein für die Entwicklung von Tschechisch als Schriftsprache.

Dass ihm bei seinen Reisen durchs Land allgemein viel Sympathie und Gastfreundschaft entgegengebracht wurde, mag ihn dazu bewogen haben, dem Sicherheitsversprechen des Kaisers zu trauen und entgegen vieler Warnungen nach Konstanz zu reisen. Darüber hinaus fühlte er sich seinen Schülern verpflichtet: Sie sollten nicht denken, er habe seine Überzeugungen verraten. In seinem Abschiedsbrief an die Freunde in Prag schreibt er: „Das aber erfüllt mich mit Freude, dass sie (gemeint sind die Vertreter der Anklage) meine Bücher doch haben lesen müssen, worin ihre Bosheit geoffenbart wird. Ich weiß auch, dass sie meine Schriften fleißiger gelesen haben als die Heilige Schrift, weil sie in ihnen Irrlehren zu finden wünschten.“

Wie intensiv sich der studierte Theologe Carl Loewe mit Leben und Werk von Jan Hus auseinandergesetzt hatte, als er 1841 sein gleichnamiges Oratorium schrieb, ist nicht bekannt. Tatsächlich geht diese „Oper ohne Szene“, wie der ehemalige Tübinger Stiftsmusikdirektor Hans-Peter Braun das Werk anlässlich seiner Wiederentdeckung vor wenigen Jahren charakterisierte, in großer Freiheit mit den historischen Fakten um, erzählt stattdessen lieber vom heiteren Studentenleben in Prag und schildert in einem farbig ausgestalteten Mittelteil ausführlich die Reise von Prag nach Konstanz. Die Theologie und auch die Gegenstände des politischen Streits werden exemplarisch vorgestellt: Was Hus lehrt, zeigt sich in dem, wie er wirkt. Seine Schüler feiern ihn, das böhmische Königspaar Wenzel und Sophia singt mit ihm ein Terzett über Glaube, Hoffnung und Liebe (1. Kor 13), die Menschen, denen er unterwegs begegnet, erwidern sein Gottvertrauen mit Freundlichkeit. Hus selbst bleibt seiner Sache treu bis zum letzten „In te, Domine, speravi“ (Mein Gott, ich hoffe auf dich). Sogar der Chor der Flammengeister bewegt sich vom düsteren c-moll zur Erlösungstonart C-Dur: Das Feuer zerstört nur den Leib, nicht aber die kostbare Seele, die nun „ungetrübt rein“ leuchten kann.

Nach dem dramaturgischen Prinzip des „show, don‘t tell“ wird der historische Stoff verdichtet, anders als bei Mendelssohn, dessen große Oratorien ebenfalls in dieser Zeit entstehen und viel ausführlicher angelegt sind. Robert Schumann lobt deshalb ausdrücklich das Libretto: „Es ist (ein Text) der auch ohne Musik sich des Lesens lohnte, seines Gedankengehaltes, der edlen echt deutschen Sprache, der natürlichen Anordnung des Ganzen halber. Wer an Einzelnem mäkelt, an einzelnen Worten Anstoß findet, der mag sich seine Texte bei den Göttern holen. Wir würden die Komponisten glücklich schätzen, die immer solche Texte zu componieren hätten.“

Verfasst hat diese Vorlage der Berliner Pädagoge, Geograph und Germanist Jo-hann August Zeune. 1778 in Wittenberg als Sohn eines Gräcisten geboren und später selbst Student an Luthers einstiger Uni-versität, dürfte er schon früh der Lehre und auch den Legenden um Jan Hus begegnet sein. Den berühmten Ausspruch, den der böhmische Reformator in Anspielung auf seinen Namen – hus ist das tschechische Wort für Gans – nach seiner Verurteilung getan haben soll und den Luther später auf sich bezog, baute er in sein Libretto ein: „Heute bratet ihr eine Gans, aber aus der Asche wird ein Schwan entstehen.“ Nach seiner Übersiedlung nach Berlin 1803 pflegte Zeune enge Freundschaften zu dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte und dem Historiker Johannes von Müller. Seine Lebensaufgabe fand er in der Gründung der ersten deutschen Blindenschule. Hier setzte er Standards in Pädagogik und Didaktik, bis er 1853, inzwischen selbst erblindet, in Berlin starb. Sein Interesse an der „inneren Welt der Blinden“ ermöglichte es ihm wohl auch, das anzusprechen, was man heute „Kopfkino“ nennt. So konnte man sich bei „weidende Heerden, eilet zur Ruh!“ leicht vorstellen, welch enormes Tempo eine Schafherde tatsächlich entwickeln kann, wenn sie abends in die Nähe der geöffneten Stalltüre oder des Futtertrogs kommt. Doch Zeune war auch ein politischer Publizist, den die Zeit der französischen Besatzung geprägt hatte. Das gerade im Umfeld der Universitäten blühende liberale Klima des Vormärz mit seinem Nationalismus und seiner Skepsis gegenüber den feudalen Strukturen spielt also auch mit hinein, wenn im Oratorium das freie Studentenleben besungen wird, die „Zigeuner“ (sie stehen in der Romantik immer für Freiheit und Ablehnung von Autoritäten) den treuherzigen Professor vor dem Kaiser warnen, wenn Sigismund seiner Frau Barbara seinen Wortbruch begründet und Hus schließlich beim Prozess niedergebrüllt wird: Die Freiheit ist ein kostbares und bedrohtes Gut – und fordert nicht selten unschuldige Opfer.

Wie Zeune stammte auch Carl Loewe aus Sachsen-Anhalt. Geboren in Löbejün als zwölftes Kind einer Kirchenmusiker-Familie wurden seine künstlerischen Begabungen von klein auf gefördert. Dennoch studierte er zunächst Evangelische Theologie in Halle, entfaltete daneben aber bereits eine ausgedehnte Konzerttätigkeit und begann selbst zu komponieren. Nach dem Studium legte er in Berlin eine Prüfung zum Kirchen- und Schulmusiker ab, bewarb sich erfolgreich um eine Kirchenmusikerstelle in Stettin und heiratete kurz darauf Julia von Jakob, die Tochter des Halleschen Universitätskanzlers, die nach zwei Jahren bei der Geburt des Sohnes Julian starb. Aus der zweiten Ehe mit Auguste Lange stammten vier Töchter, die im Laufe der Zeit miterlebten, wie ihr Vater als engagierter Dirigent, Pianist und Interpret der eigenen Werke gefeiert und geehrt wurde. Für seine Verdienste um das Pommersche Musikleben erhielt er u.a. den Ehrendoktortitel der Universität Greifswald und wurde 1837 in die Berliner Akademie der Künste aufgenommen. Schon acht Jahre vorher war er einer Freimaurer-Loge beigetreten. Politisch galt er als „reaktionärer Royalist“, der den revolutionären Ideen seiner Zeit sehr skeptisch gegenüberstand und für eine sittlich-religiöse Erneuerung plädierte. Dazu passt sein Faible für Sagen und Märchen, die er in Balladen und Gedichtvertonungen mit bildhaften Tonmalereien und verspielten Charakterisierungen auslebte. Mit seiner schönen Tenorstimme sorgte er selbst für die rasche Verbreitung seiner über 400 Liedkompositionen, begleitete sich selbst am Klavier und machte seine Balladen populär. Über 46 Jahre wirkte er in Stettin als Kantor und Organist an der Jakobikirche, als Gymnasiallehrer und als Städtischer Musikdirektor, bis man ihm 1866 nach einem schweren Schlaganfall den Rücktritt nahelegte. 1869 starb er in Kiel, wo ihn seine Tochter Julie von Bothwell gepflegt hatte.

Zu seinem Nachlass zählten unter anderem siebzehn Oratorien, sechs Opern, Sinfonien, Klavierkonzerte, Kantaten und Kompositionen zum Kirchenjahr, doch anders als „Die Uhr“, „Heinrich der Vogler“ oder „Archibald Douglas“ gerieten diese Werke rasch in Vergessenheit. Das liegt sicher nicht an ihrer musikalischen Qualität. Gerade in „Johan Huß“ zeigt sich, wie stilsicher Loewe in verschiedenen musikalischen Traditionen zuhause ist und wie mutig er neue Klangbilder erzeugt. So steht am Ende des ersten Zigeuner-Auftritts ein freier (modaler) Akkord, weder Dur noch moll, als Zeichen für das freie, aber eben auch gefährlich instabile Leben der Protagonisten. Die einzelnen Strophen von „Was mein Gott will, das g’scheh‘ allzeit“ sind klassisch vierstimmig gesetzt; verbunden mit dem Tanzlied der Zigeuner ergibt sich dadurch im zweiten Teil ein moderner Raumklang-Effekt, der sich am Ende der Episode durch die umgekehrte Dynamik wiederholt. Auch das im strengen Palestrina-Stil angelegte „Kyrie“ im dritten Teil wartet mit einer Besonderheit auf, einem vierfachen Kontrapunkt, bei dem die Chorstimmen austauschbar sind. Hatte Loewe im Eingangsteil durch barockisierende Elemente in die Vergangenheit geführt, ist die anspruchsvolle Schlussfuge ein durch und durch romantisches Werk, auf Zukunft offen und der Theologie der Zeit verpflichtet.

Seine Wiederentdeckung verdankt das Oratorium vor allem den verschiedenen Jubiläen, die den historischen Stoff wieder in den Fokus rücken. Nach dem 600. Jahrestag der Konzilseröffnung 2014 und dem Gedenken an die Verbrennung von Jan Hus ein Dreivierteljahr später sorgt das Reformationsjubiläum dafür, dass auch die Vorläufer Luthers in den Blick kommen.

1418 endete das Konstanzer Konzil. Geblieben sind das Konzilshaus, der Hussenstein und auch Peter Lenks „Imperia“ an der Hafenmole als ironischer Kommentar zum kirchlich-politischen Ränkespiel, gut erreichbar vom Inselhotel aus mit dem Interimsquartier des unglücklichen Reformators aus Böhmen. Seine Ideen sind bis heute aktuell und unvergessen. „Seinem“ Oratorium wäre das auch zu wünschen.

Gerlinde Feine