Die Kirche wird zum Opernhaus

Die Böblinger Kantorei hat am Sonntag ein selten gehörtes Loewe-Oratorium in der Martin-Luther-Kirche vorgetragen

Mit dem Oratorium Jan Hus von Carl Loewe brachte die Böblinger Kantorei ein Mammutwerk zur Aufführung. Eckhart Böhm hatte Chor, fünf Solisten, Orchester und Orgel unter seinem Taktstock zu vereinen. Das Publikum erlebte eine dramatische Oper ohne Szene und herausragende musikalische Momente.


Von Boris Belge
Mit freundlicher Unterstützung der KREISZEITUNG Böblinger Bote

BÖBLINGEN. Gespannte Stille in der Martin-Luther-Kirche. Kantorei, die Sinfonietta Böblingen und die Solisten haben Platz genommen und warten nur auf den ersten Einsatz von Eckhart Böhm. Er nimmt den Taktstock in die Hand. Und genau in diesem Moment stellt der Kantor fest, dass er seine Lesebrille vergessen hat. Das Publikum nimmt’s mit Humor und nutzt die Zeit, um das informative und umfassende Programmheft näher zu studieren.
Seine Lesebrille brauchte Böhm, um der gewaltigen Partitur gerecht zu werden. Was Librettist Johann August Zeine (1778–1853) und Komponist Carl Loewe (1796–1869) im Jahr 1841 komponierten, ist wirklich harter Tobak. Die Ladung des Prager Reformators Jan Hus nach Konstanz, das zurückgezogene Versprechen des freien Geleits und sein Tod auf dem Scheiterhaufen im Jahre 1415 inszenieren Zeine und Loewe als großes Drama und verschränken mittelalterliche Erzählelemente aus Heiligenviten mit romantischen Motiven des 19. Jahrhunderts.
Denn das Oratorium ist ein durch und durch romantisches Werk: In einem fröhlichen Studentenchor zu Beginn winkt das Wartburgfest hinüber, Zigeuner leben in den Wäldern ein freies Leben und Jan Hus wird von Flammengeistern umhüllt, die fast schon wie bei Richard Wagners Götterdämmerung alles Irdische vernichten, um „leuchtendes Gold“ (gemeint sind die Ideen und das Erbe des Reformators Jan Hus) in C-Dur freizulegen. „Jan Hus“ ist ein schwieriges Werk, das zwischen geistlichem Oratorium und romantischer Oper hin- und herschwingt.
Musikalisch wählte Loewe verschiedene Stilmittel, um der anspruchsvollen Textvorlage gerecht zu werden. Es war EckhartBöhm und den Aufführenden zu verdanken, dass aus romantischen, barocken und renaissancehaften Passagen ein großes Ganzes wurde. Die Kantorei zeigte keine Anzeichen von Behäbigkeit, sondern intonierte wach und dynamisch, wenn sie etwa König Siegmund als „Lügemund“ bezeichnete. Besonders beeindruckend gestaltete der Chor die zischend-züngelnden Flammengeister und den derb-archaisierenden Zigeunerchor.
Selbstverständlich zeigte sich die Kantorei auch bestens gewachsen, die notierten Choräle, darunter „Gott ist mein Trost und Zuversicht“, sicher und innig anzustimmen. Die Solisten um Tenor Johannes Petz, der die Rolle des Prager Reformators einnahm, zeigten sich allesamt von ihrer besten Seite. Ein Terzett über die Verbindung von Glaube, Liebe und Hoffnung zwischen Petz, Isabelle Müller-Cant (Sopran) und Ulrich Wand (Bass) entpuppte sich als kostbares musikalisches Kleinod. Mirjam Künstner (Alt) und Thomas Scharr (Bass) warnten Hus unheilvoll und vergeblich vor dem über ihn hereinbrechenden Unheil.

Mit vibrierender Energie und höchster Konzentration
Die Sinfonietta Böblingen beherrschte das Wechselspiel aus zurückhaltender Begleitung der Sänger und solistischem Glanz vorzüglich. Die klangliche Balance blieb nahezu immer gewahrt, nur vereinzelt erwies sich das Orchester-Tutti als zu mächtig. Im finalen Schlusschor, das den „Schein“ Jan Hus’ besingt, der der „Menschheit ewig“ leuchtenwird, spornte das Orchester den Chor zu voluminösem Forte an, sodass das Werk in großem Triumph enden konnte.
Lange Jahre war das Oratorium von Carl Loewe, der sich vor allem durch seine Lieder und Balladen einen Namen gemacht hat, vergessen. Seit zwei Jahren kommt es im Vorfeld zum aktuellen Reformationsjubiläum häufiger zum Klingen. Die Aufführung am Sonntag war ein gelungenes Beispiel dafür, wie mit vibrierender Energie, höchster Konzentration und Eindringlichkeit eine Handlung opernhafter Dimension ohne szenische Elemente, aber dennoch plastisch dargestellt werden kann. Der lang anhaltende, ausdauernde Applaus des Publikums war der verdiente Lohn für harte Arbeit.