Böblingen: Kantorei singt unter Tilman Jägers Leitung Bachs Weihnachtsoratorium in St. Klemens
Maßvolle und ehrliche Freude
Von unserem Mitarbeiter Bernd Heiden

Aus der Regel wurde eine Ausnahme: Bachs Weihnachtsoratorium hatte Seltenheitswert auf den diesjährigen Konzertplänen der näheren Umgebung. Von den renommierteren Chören widmete sich allein die Böblinger Kantorei in der Böblinger St. Klemens-Kirche unter Leitung von Tilman Jäger dem Weihnachtsklassiker der klassischen Musik.

Insgesamt sechs Kantaten umfasst das komplette Bachsche Weihnachtsoratorium: zu viel für ein Konzert. Tilman Jäger traf daraus die eher ungewöhnliche Auswahl der Teile eins sowie vier bis sechs. So ungewöhnlich die Auswahl, so unverkennbar auch die Jägersche Handschrift dieser Aufführung, bei der neben dem Unterstufenchor des AEG auch das Orchester Camerata viva aus Tübingen mitwirkte.

So präsentierte das Ensemble die Choräle nicht als Einheitsform, sondern vielmehr als Individualgestalten. Was unterm Strich zum einen Tempi bedeutet, die von behäbig-getragener Feierlichkeit bei "Wie soll ich dich empfangen" bis zu straffer Keckheit, etwa im Schlusschoral, reichten. Zum anderen singt der Chor keinen der selbst schlichteren Choräle geradlinig, sondern arbeitet mit klaren Schwerpunkten und deutlicher Differenzierung in den Phrasen.

Auch die weitaus anspruchsvolleren, konzertanten Chorsätze verraten eine ganz spezifische Abstimmung: Mit 15 Bässen, im Vergleich zu acht Tenören, wäre es ein leichtes für die Kantorei gewesen, mit den tiefen Männerstimmen eine Fundamentdominanz aufzubauen. Aber die Klangabstimmung verrät, dass Jäger keine Stimmgruppe übergewichten will. Im homophonen Tutti klingt das Ensemble damit sehr ausgewogen, auch hinsichtlich der Anteile von Männer- zu Frauenstimmen. Und in den kontrapunktischen Passagen kann der Dirigent die Stimmen herauskitzeln, auf die es gerade ankommt: Auch die eigentlich unterrepräsentierten Tenöre verstehen sich da in Szene zu setzen.

Am Barockstil orientiert

Insgesamt eine am Barockstil orientierte und trotz Sängermasse auch realisierte Aufführung, bei der die Kantorei genau den Affektgehalt vernehmen lässt, den man sich als schicklich für die damalige Zeit vorstellt. Das "Jauchzet" etwa ist in dieser Aufführung kein Jubelgeschrei wie im Fußballstadion, sondern eine so maßvolle wie ehrliche Aufforderung zur Freude. Bei allem Lob für den auch technisch überzeugenden Chor, kaum lässt sich verhehlen, dass der Eingangschor nicht nur im Zuhörerohr, sondern auch bei Sängern den vertrautesten Sitz hat. So lassen sich in teils immens anspruchsvollen Chorsätzen hie und da kleinere Unsicherheiten nicht immer überhören.

Überzeugend präsentiert sich auch die Camerata viva aus Tübingen, die das feinziselierte Barockwerk weder romantisch verwässert noch irgendwelche fälschlich herausstechenden Instrumentengruppen hören lässt. Allein das Orgelpositiv fällt manchmal etwas üppig aus.

Profund die Solisten, allerdings mit kleinem aber: Isabelle Müller-Cant singt im Vergleich zu echten Barockspezialistinnen mit viel, fast tremolierendem Vibrato, auch die Stimmführung fällt etwas breit aus. Besonders frappierend macht sich das bemerkbar neben einem Spezialisten wie Franz Vitzthum, der ungemein überzeugend die Altpartien bringt.

Tenor Dietrich Wrase ist ein Vorzeigemann in den Rezitativen mit Silbe für Silbe überlegter Gestaltung. Bei den hochartistischen Tenorarien wäre dagegen etwas weiter gespannte Linienführung nicht schlecht, denn so steht die Erregung auf der Kippe zum Hektischen. Sehr schöner, sehr farbiger und hell timbrierter Bass von Dominik Hosefelder, der ab und an noch ein wenig mehr hätte geben dürfen. Echte Überraschung, dass der von Susanne Pflumm-Hruza betreute AEG-Unterstufenchor mit Stimmglanz und verblüffender Kompaktheit eine blitzsaubere Vorstellung bei einigen einstimmigen Chorälen abliefert.