Der Tod ist verschlungen in den Sieg


SindelfingerZeitung BöblingerZeitung - SZBZ - 25.03.2010 - Christoph Martin Hauff


Wer war, wer ist Carl Loewe? So muss man heutzutage fragen, auch wenn bekannte wie unbekannte Sängerstars seine populären Balladen vom Prinzen Eugen, dem edlen Ritter, von Heinrich dem Vogler, gerne aufs Podium bringen. Dass Carl Loewe (1796 bis 1869) mehr als ein Dutzend abendfüllender Oratorien mit Titelhelden wie dem Komponisten da Palestrina, dem Reformator Johannes Huss, dem Erfinder des Buchdrucks, Johannes Gutenberg, geschrieben hat, muss man sich schwer ergooglen, ganz zu schweigen von Opernprojekten, die durchaus den Beifall berühmter Kollegen wie Gaspare Spontini erhalten.

Dabei fängt Carl Loewe seine musikalische Laufbahn im Sturmschritt an. „Als ich zum Bewußtsein kam, spielte ich Clavier und Orgel und sang vom Blatte weg, ohne daß ich mich erinnern könnte, die Elemente auch nur mit einer Anstrengung gelernt zu haben“, so schreibt Carl Loewe zu seinen Anfängen, die er, als jüngstes von zwölf Kindern in der Nähe von Halle/Saale geboren, auf der Sängerempore seines Vaters Andreas verbringt. Der amtiert, entgegen der Famlientradition, nicht als Pfarrer, sondern als Kantor und Organist.

Uraufführung in Stettin

Carl Loewe kommt 1820/21 endgültig nach Stettin, wohlausgebildet unter anderem von Goethe-Freund Zelter, in Gesang und Orgelspiel; frühzeitig geübt im Umgang mit dem Männerchorgesang und anderem mehr. Seine Stettiner Stellung umfasst sowohl den Kirchendienst als auch das Städtische Musikdirektorat. 1831 führt Loewe Bachs Matthäus-Passion in Stettin auf, also lediglich drei Jahre nach der Pioniertat Mendelssohns in Leipzig. 1841 folgt die Johannes-Passion, um 1850 entsteht sein „Sühneopfer des Neuen Bundes“ nach einem wohldurchdachten Libretto des Lehrerkollegen Wilhelm Telschow.

Anders als in Bachs Passionen gibt es nicht den tenoralen Evangelisten. Vielmehr wird der Erzähltext auf verschiedene Solostimmen verteilt. Überhaupt besitzt das Werk, geschrieben für gemischten Chor, fünf Solostimmen, Streichquintett und Orgel, durchaus opernhafte Züge. Aber das haben die Zeitgenossen dem großen Johann Sebastian ja auch vorgeworfen.

Überragender Volker Spiegel

Krankheitsbedingt übernimmt anstelle von Eckhart Böhm der Herrenberger Kirchenmusikdirektor Ulrich Feige das Dirigat in Böblingen. Ein Glücksfall für die Veranstalter, dass Feige eben dieses Werk am 28. März mit seinen eigenen Ensembles an der Herrenberger Stiftskirche aufführt, mit nahezu identischer Solistenbesetzung. So lohnt für Wiederholungstäter die Fahrt nach Herrenberg einzig schon, um den alles überragenden Volker Spiegel als Jesus erneut zu hören. Er gestaltet seinen Part nicht als leidender Messias, sondern, mit Worten aus Bachs Johannes-Passion, als Held aus Juda, der mit Macht siegt.

Ihm zur Seite singen klangschön und überzeugend Wiebke Huhs (Sopran), Annette Mangold (Alt), Wolfgang Frisch (Tenor) und Teru Yoshira (Bass), die sich jeweils sowohl in gehaltvollen Solo-Arien als auch in wechselnden Ensemble-Formationen bewähren.

Carl Loewe schreibt für heutige Begriffe vielleicht gelegentlich etwas zu bewusst volkstümlich, jedoch in jeder Phase durchaus eigenständig. Familienähnlichkeit ist am ehesten mit Carl Maria von Weber festzustellen, den Loewe durchaus gekannt hat. Es ist dieselbe unmittelbar zupackende Art zu musizieren. Zwischen der einleitenden Szene am Grabe des Lazarus und dem paulinischen Schlusschor reiht sich eine melodische Perle an die andere. Dazwischen schleichen Häscher durch die Nacht, verlangen höhnende Hohepriester den Tod des Gotteslästerers, brausen Volkschöre auf.

Und damit sind wir bei der Böblinger Kantorei, die dieser Paraderolle im großen Ganzen sehr wohl gerecht wird. Wenn die ganz großen Aufschwünge nicht immer stattfinden, so liegt dies einzig an der Quantität, nicht an der Qualität der Männerstimmen. Carl Loewe schreibt, durchaus textgerecht, abwechlsungsreich für die männlichen Ankläger und ihre Erfüllungsgehilfen, und da lässt im Vollzug die 14-köpfige Männerschar, wiewohl im Zentrum stehend, gelegentlich zu wünschen übrig.

Zur großen Linie findet der Gesamtchor, gemeinsam mit dem in Kleinstbesetzung aufspielenden Concentus Böblingen (Konzertmeister Klaus Marquardt), stets da, wo Carl Loewe dies plant: in den bewusst knapp gehaltenen Chorälen, in den aufpeitschenden Volksszenen, im weit ausschwingenden Schlusschor. Der Tod ist verschlungen in den Sieg, und so ruht Carl Loewes Herz bis heute in einer der größten Orgelpfeifen von St. Jacobi zu Stettin.