Beifallsorgie für Städte im Zusammenklang
SZBZ /8.Juli 2003 (Artikel von Bernd Heiden)

Böblingen: Sindelfingens Kirchenmusikdirektor Matthias Hanke dirigiert Carl Orffs Carmina Burana in der ausverkauften Kongresshalle zum 750-jährigen Stadtjubiläum

Eine bis auf den letzten Sitz ausverkaufte Aufführung der Carmina Burana im Europasaal der Kongresshalle markierte den musikalischen Höhepunkt der Feierlichkeiten zum 750-jährigen Stadtjubiläum Böblingens. Die reine Quantität von rund 400 Sängern, Sängerinnen, Musikern und Musikerinnen unter der Leitung von Matthias Hanke bedeutete einen Superlativ. Rein musikalisch bewegte sich die Aufführung auf einem hohen Niveau.

Bei aller Vorsicht angesichts von Musikermassen, die etwa die Bläserchöre oder die Chöre des Otto-Elben-Gaus mobilisieren können, darf man den Superlativ so formulieren: Mit dem Carmina-Burana-Ensemble marschierte das größte Ensemble auf, das sich bisher auf Eigeninitiative des Böblinger Bezirkskantorats zu einem Projekt zusammenfand, das mehrere Monate intensive und am Ende gemeinsame Probenarbeit verlangte.

Und Kirchenhierarchien und Instanzenwege hin oder her: Das Ganze, obwohl ein Konzert zu einem Böblinger Jubiläum, wurde von Sindelfingen aus angestoßen. Der Sindelfinger Bezirkskantor Matthias Hanke, damals noch kein Kirchenmusikdirektor (KMD), leierte vor etwa eineinhalb Jahren das musikalische Großereignis an und vereinte letztlich die Chöre der Böblinger Kantorei, des Böblinger Albert Einstein Gymnasiums (AEG), den Bezirks-Chor Böblingen, alle Chöre der Sindelfinger Martinskirche, den Chor der Sindelfinger Johanneskirche und die Orchester des Sindelfinger Stiftshofs und des AEG sowie das Kammerorchester der Musik- und Kunstschule Böblingen unter seinem Dirigentenstab.

Vor dem Konzert dankte Böblingens Oberbürgermeister Alexander Vogelgsang in seinem Grußwort namentlich KMD Hanke für diesen "Zusammenklang der Städte Böblingen und Sindelfingen". Und nach dem Konzert dankte das fast ausnahmslos begeisterte Publikum mit einer Beifallsorgie, gab sich nicht mit einer Zugabe zufrieden, sondern wollte die Halle erst verlassen, als nochmals "Tempus est iocundum" mit seinen prägnanten Kastagnettenrhythmen gegeben wurde.

Am Ende klatschten die Zuhörer sogar rhythmisch mit. Keine Frage, allein der reine, eine gemütliche Zigarettenlänge währende Applaus zeigte, dass die Carmina Burana beim Publikum voll eingeschlagen hatte. Eine packende Version von Orffs Kantate war dem Jubiläums-Ensemble zweifelsohne gelungen.

Nicht zuletzt ein Verdienst der Schlagwerker um Ineke Busch von der Böblinger Musik- und Kunstschule, die bei Carl Orffs percussiv geprägtem Werk fast ohne Pause im Fokus der Aufmerksamkeit standen. Die Schlagzeugtruppe arbeitete dabei nicht nur präzise, sondern passte sich auch dynamisch gut in den Gesamtapparat ein und sorgte insgesamt für ein solides rhythmisches Grundgerüst.

Verschmerzbar war damit, dass zwar selten, aber hin und wieder doch die rhythmischen Fäden zwischen Chor und Orchester mal auseinander liefen. Bei gut 50 Meter Luftlinie zwischen Instrumentalisten und manchem Chorsänger wohl auch nicht immer ganz vermeidbar.

Dabei überzeugte der Chor - doch eher überraschend - durch seine gute Sprachrhythmik, ohne die der Carmina Burana der letzte Punch fehlt: Gerade bei der Sängermasse musste man befürchten, dass die Deklamation Schiffbruch erleiden würde. Der Chorverve war denn auch zu verdanken, dass "Swaz hie gat umbe" seinen Schwung entfaltet. Die Geigen, die hier eigentlich den Rhythmusfunken zünden sollten mit einer Spieltechnik wie beim Rasqueado der Flamencogitarre, versagten an dieser Stelle.

Kraftvoll im Tutti

Kraftvoll doch kultiviert, gut ausgewogen und ab dem Mezzoforte mit ansprechendem Klang präsentierte sich der Chor im Tutti. Während Sängerinnen und Sänger im "Ecce gratum" etwas behäbig wirkten in den abrupten Tempiverschärfungen, beschleunigten sie im "Circa mea pectora" ausgezeichnet. Nicht immer arbeitete der Chor die dynamischen Kontraste so sauber heraus wie die Sopräne beim "Mandaliet"-Echo, dennoch schöpfte der Chor eine sehr breite Dynamikpalette aus.

Dass in dem freilich eh sehr laut interpretierten Pianissimo des "Fortuna" keine Vibration und damit keine Hochspannung vor der plötzlichen Fortissimo-Explosion entstand, lag hauptsächlich an der trockenen Kongresshallen-Akustik. Wirklich reiche Klangentfaltung im Leisen war da schlicht unmöglich.

Für positive Überraschungen sorgten die Bässe mit ihrem "Fortune plango"-Solo, ein bisschen Kuddelmuddel fabrizierten ausgesuchte Männerstimmen dagegen im a capella-Satz "Si puer", während weder Piccolo-Frauenchor noch Tenöre sich im "Floret Silva" mit Ruhm bekleckerten. Ohne Tadel dagegen die heiklen Ragazzi-Chöre der Kinder.

Bei den Solisten begeisterte ein selbstmitleidig im Falsett wimmernder Reginaldo Pinhero als Bratspieß-Schwan, Rosemarie Jakschitsch entzückte mit warmem Sopran und selten zu hörender Stimmbeherrschung bis in den Flüsterbereich. Im Prinzip auch keine Einwände gegen den lyrischen Bariton eines Thomas Hamberger. Leider fehlte ihm das letzte Pfund, um sich in einem der Knaller, dem ersten Satz des Tavernen-Teils ("Estuans interius") gegen das Orchester zu behaupten oder ohne Anstrengung richtig in Szene zu setzen.

Für kleine Auflockerungen sorgten kleine szenische Einlagen, wenn etwa Rosenblätter von der Decke rieselten, Spielleute (David und Lukas Hanke) oder eine als Queen-Mum aufgemachte Königin von England (Herta Hartenbauer) vor dem Chor vorbeiflanierten. Dass aber die Entscheidung, ein bisschen und doch nicht richtig mit Szene zu arbeiten, problematisch war, zeigte der Auftritt Felix Sommers als mittelalterlicher Kosmetiker: Während einige Sängerinnen lustvoll mitspielten, machten andere bedröpste Mienen.

Kleine szenische Einlagen

Insgesamt am sinnigsten sicher die Idee, Bariton Hamberger zu Satz 13 als Saufabt in Mönchskutte auf die Bühne zu stellen. Klaus Philippscheck rezitierte in passendem Ton zwischendurch ein paar Texte zur Carmina Burana, zur Landesgartenschau Sindelfingen im Jahr 1990 verfasst von Dieter E. Hülle: Für diejenigen, die die Orff-Texte nicht parat hatten, sicher hilfreich.

Das Orchester überzeugte grosso modo, auch wenn ein, zwei Positionen zusätzlich professionell hätten besetzt werden sollen. Und bis auf wenige, hier fast erschöpfend aufgelisteten Ausnahmen, gelang Kirchenmusikdirektor Hanke saubere Abstimmung, souveräne Führung und unterm Strich eine Aufführung auf hohem Niveau.